Die leise Last der Dinge – Ruth Ozeki

Werbung, da Rezensionsexemplar

Inhalt

Benny war zwölf, als sein Vater starb. Der Jazz-Klarinettist wurde von einem LKW überfahren. Benny blieb traumatisiert zurück, begann Stimmen zu vernehmen. Etwa ein Jahr lang hörte er Kenji, seinen Vater, seither die Laute von Alltagsgegenständen. Er erahnt ihre Gefühle, lauscht in „Die leise Last der Dinge“ ihrem Schmerz – und er kann nicht weghören. Alles plappert durcheinander, er findet keine Konzentration mehr, keine Ruhe.

Seine Mutter Annabelle kämpft nach dem Tod ihrer großen Liebe an mehreren Fronten: Ihr Sohn entgleitet ihr, ihr Körper geht auseinander, ihre Arbeitsstelle ist gefährdet, das Haus verwahrlost.

Werden die beiden ihr Leben in den Griff kriegen?

Einstieg

Mein Versuch, den Roman kurz anzulesen und dann schlafen zu gehen, ist grandios gescheitert.

Die Geschichte packte mich sofort. Mir begegneten keine geeigneten Stellen, um auszusteigen. Das Buch besteht aus Wörtern, die zum Lesen des nächsten Satzes und allen weiteren auffordern. Am liebsten hätte ich ohne Pause bis zum Schluss gelesen – bei fast 700 Seiten ein nicht machbares Unterfangen. Es war – und blieb – ein Kampf, den Roman wegzulegen.

Der Anfang bekommt jeden erdenklichen Punkt von mir. Ich habe mich in den Schreibstil und die Idee verliebt, mit den Personen gefühlt, wollte sie wahlweise umarmen oder schütteln. Ich war neugierig auf alles, das noch kommen sollte.

Außenseiter?

Die Figuren sind Menschen, die schnell als Außenseiter abgestempelt sind:
Unser Protagonist Benny hört Stimmen, er muss verrückt sein.
Seine Mutter Annabelle hortet Sachen, sie ist ein Messie.
Sein Vater kam um, weil er bekifft ohnmächtig wurde.
Das Aleph, das er in der Klinik trifft, ist eine drogenabhängige Landstreicherin, die im Müll wühlt.
Der F-Mann, den er aus dem Bus kennt, ist ein alkoholkranker Obdachloser.

Leute, die man meidet? Tja, ich kann sie ebenso flott anders beschreiben:
Benny ist ein hochsensibler Junge, der mit seinem Verlust und den Veränderungen überfordert ist.
Annabelle ist eine trauernde Frau, die alles gibt, was ihr möglich ist, und ihren Sohn an die erste Stelle setzt.
Kenji, halb Koreaner, halb Japaner, war ein liebender Ehemann/Vater und ein begnadeter Musiker.
Das Aleph ist eine mitfühlende junge Frau, die Schlimmes erlebt hat und Fremden mit ihrer Kunst hilft.
Der F-Mann ist ein weiser Dichter, der anderen beisteht und sie ermutigt.

"'Du bist, wer du bist, Benny Oh. Lass dir von niemandem einreden, dass das ein Problem ist.'" 
(Kap. 51, Pos. 6162/9274)

Das klingt ganz anders, oder? Für mich geht es in diesem Buch darum, Dinge zu hinterfragen.

Fragen über Fragen

Ist Benny psychisch krank? Und wie sehr? Wie normal ist normal genug?
Kann man Annabelle verurteilen? Wie schnell wird ein Mensch abgestempelt?
Sind die beiden Vagabunden abstoßend?

Außerdem:
Was ist real?
Wie kann man eine gefühlte Leere füllen?
Warum wird die Welt lauter und fordernder, während wir uns nach Ruhe sehnen? Warum machen wir da mit? Haben wir eine Wahl?
Muss immer alles optimiert, erneuert, ersetzt werden?
Wann ist unser Konsum- und Fortschrittshunger gestillt? Besitzen wir Dinge – oder besitzen sie uns?

„Die leise Last der Dinge“ ist ein Buch, das wichtige Themen anspricht, eine Menge Fragen aufwirft und zum Nachdenken bringt.

Ein Buch erzählt

Die Geschichte wird von einem Buch erzählt. Bücher sind nicht nur irgendwelche Sachen, Bücher sind innerhalb der Story halb lebendige Geschöpfe, die eine Beziehung zu ihrer Leserschaft aufbauen. Klingt komisch, ist aber toll gemacht.
Benny findet es gut, den größten Teil von seinem Buch erzählen zu lassen, weil er von Ereignissen wie dem Kennenlernen seiner Eltern wenig weiß. Er kommentiert die Berichte hin und wieder, was zu amüsanten Stellen führt, beispielsweise wenn das Buch aus dem Intimleben von Annabelle und Kenji plaudert – und der Junge absolut nichts davon hören will.

Daneben gibt es Auszüge aus einem weiteren Buch, nämlich dem, das für Annabelle bestimmt ist: „Tidy Magic: Zen oder die Kunst, deine Wohnung und dein Leben aufzuräumen“ Dabei handelt es sich um eine Ausmist-Anleitung der bekannten Zen-Meisterin Aikon. Das reale Vorbild ist rasch gefunden.

Ich mag Bücher, die Bücher verehren. Dieses gehört dazu.

Aufbau

Der Roman besteht aus fünf Teilen, die jeweils mit einem Zitat aus Walter Benjamins „Ich packe meine Bibliothek aus“ beginnen. Eine passende Wahl, denn in dem Werk des Bücherliebhabers geht es um seine Sammelleidenschaft. Zudem wird der Philosoph in der Geschichte von dem Aleph ins Spiel gebracht, so dass seine Einschübe nicht willkürlich erscheinen. Die Bibliothek stellt einen bedeutenden Raum dar. Alles ist aufeinander abgestimmt.

Das 91 Kapitel umfassende Buch ist vielschichtig – und es bietet auch optisch Abwechslung. Es gibt Zeichnungen, verschiedene Schriftarten und -größen, die an geeigneten Stellen für eine angenehme Auflockerung sorgen. Ich hatte nie das Gefühl, einen ewig langen Schmöker zu lesen, im Gegenteil. Die Seiten flogen dahin.

Brillant erzählt

Die Autorin hat’s drauf. Ruth Ozeki ist eine fantastische Geschichtenerzählerin, die mich von Anfang bis Ende gefesselt hat. Sie schreibt einfühlsam, poetisch, leicht verständlich. Wohlverdient war sie mit „Die leise Last der Dinge“, im Original: „The Book of Form and Emptiness“, für den diesjährigen Women’s Prize for Fiction nominiert – und hat gewonnen.
Das Buch entfaltet sich langsam und mit vielen Details, ohne dass es langatmig wirkt. Es gibt bedrückende Themen und befremdliche Stellen, ebenso witzige und liebenswürdige. Mir hat die Mischung gefallen.

Der Schluss kam mir etwas einfach und abrupt vor für das, was aufgetürmt wurde. Insgesamt bleibe ich aber zufrieden zurück und möchte mehr von Ruth Ozeki lesen.

Fazit

„Die leise Last der Dinge“ ist ein ruhiger Coming-of-Age-Roman aus dem Genre des Magischen Realismus, der viele wichtige Themen anspricht und allerhand Fragen aufwirft. Ich mochte die nicht ganz lupenreinen Charaktere und den mitreißenden Schreibstil – und besonders mochte ich die originelle Idee, ein Buch die Geschichte erzählen zu lassen.

4/5!

 

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688 Seiten / ISBN: 9783961611430 / Übersetzung: Andrea von Struve, Petra Post


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